Udaipur & Jaipur |
"Morgen" läuft die Maschine
Tja, jetzt muss ich mein Blog leider mal missbrauchen, um mich mal ein bisschen aufzuregen. Und zwar über die Arbeiter in unserem Labor. Für meine Arbeit brauche ich eine Karde – so etwas: http://de.wikipedia.org/wiki/Kardieren - um aus einem Haufen Fasern ein Faserband herzustellen. Das ist eigentlich nichts Besonderes, allerdings ist die Karde, die hier steht, schon seit Monaten kaputt. Der Mechaniker der Herstellerfirma kommt nur, wenn im Voraus bezahlt wird, so etwas lässt das IIT aber aus grundsätzlich-bürokratischen Überlegungen nicht zu. Eine verfahrene Situation, die mir eigentlich egal wäre, wenn ich diese Maschine nicht so dringend bräuchte. Also muss ich meine geschätzten Laboranten hier dazu bringen, dieses Ding irgendwie zu reparieren und wieder in Gang zu setzen.
Problem dabei ist: die guten Leute haben nicht viel Zeit! Allerdings weniger, weil sie so viele andere Maschinen zu reparieren haben; es liegt eher an dem indischen Tee. Der muss nämlich im Abstand weniger halber Stunden regelmäßig konsumiert werden, ansonsten … weiß ich auch nicht. Daher erscheinen die Herren hier morgens, schließen das Labor auf, legen ihre Taschen ab und gehen dann wieder, um in der Teestube auf dem Campus ein Stündchen Tee trinken zu gehen. Oder zwei. Auch wenn der offizielle Arbeitsbeginn bei 9:30 liegt, kann man eigentlich nicht vor 11 Uhr damit rechnen, dass das Personal anwesend ist. Falls doch 90 % der Leute da sind, fehlt trotzdem immer genau derjenige, der die benötige Maschine bedienen kann. Oder die Maschine kann nur von allen gemeinsam bedient werden.
Falls man sich dann um 10 verabredet hat, um von dem Elektriker ein Bauteil checken zu lassen, und falls dann alle um 11 da sind, dreht der Elektriker an zwei Schrauben, stellt fest, dass es nicht den gewünschten Effekt bringt, wackelt hilflos mit dem Kopf und verschwindet wieder. Daraufhin versichert der Rest, dass er es in 15 Minuten noch mal versuchen würde, und verschwindet auch. Da war es 11:15. Danach ist wieder Tee-Zeit, die fließend in die Mittagspause übergeht. Daraufhin ein Verdauungstee und zack! – um 15 Uhr steht wieder jemand an der Maschine. Dieser versichert mir, wenn ich ihn später irgendwo anders im Gebäude wieder treffe, dass es ein Problem gebe, die Maschine funktioniere nicht. Er würde es aber wieder versuchen. Allerdings ist es jetzt schon spät, in einer halben Stunde ist schon Feierabend (17:30), „morgen“ werde die Maschine in Betrieb genommen.
„Morgen“ ist eine sehr indische Zeitangabe, die nichts mit den normalen Wald-und-Wiesen „morgen“ in Deutschland zu tun hat. Während bei uns „morgen“ üblicherweise eine Zeitpunkt in der Schicht am nächsten Tag bedeutet, heißt morgen hier eher: ab morgen bis...
Der benötigte Zeitraum kann am nächsten Tag durch ein erneutes „morgen“ noch mal um einen Tag verlängert werden. Meine Maschine läuft inzwischen übrigens schon seit sechs Wochen „morgen“ …
Der benötigte Zeitraum kann am nächsten Tag durch ein erneutes „morgen“ noch mal um einen Tag verlängert werden. Meine Maschine läuft inzwischen übrigens schon seit sechs Wochen „morgen“ …
An dieser Stelle höre ich schon das geneigte Publikum murmeln „das geht doch nicht…“, „…da muss man doch mal mit eiserner Hand…“, „…Fristen setzen und konsequent durchsetzen…“. Die Erfahrung hab ich leider auch schon gemacht, es hilft alles nichts. Wenn man jemanden bittet, etwas zu tun, und er sagt „gleich“ (was übrigens einem indischen „morgen“ nur mit kürzerer Laufzeit entspricht) und ist danach nicht mehr auffindbar, ist man hilflos. Das Einzige, was hilft, ist Autorität. Die hat mein Professor; wenn der danebensteht, ist Tee auf einmal zweitrangig, dann wird geklotzt. Sobald seine autoritär-professorale Aura allerdings nicht mehr in der Nähe ist, sinkt die Arbeitsgeschwindigkeit merklich.
Zur Ehrenrettung der indischen Arbeiter muss man allerdings hinzufügen, dass die Herren Arbeiter hier 1.) „alt“ sind und 2.) in einer öffentlichen Institution arbeiten. Diese hat zu einer Beamtenmentalität geführt, die ich so noch nie gesehen habe. Die Arbeiter hier bekommen das volle Programm: Wohnung, Krankenfürsorge etc. bei minimaler Kontrolle. Und das wird ausgelebt. In der indischen Privatwirtschaft sieht das – so berichtete man mir – ganz anders aus.
Ansonsten kann ich mich eigentlich nicht beklagen; da meine Maschine immer „morgen“ läuft, habe ich „heute“ ausreichend Freizeit, die ich mit Sightseeing, Partys und Entspannung verbringen kann. Allerdings rückt auch der Abgabetermin meiner Arbeit näher, was bei jeder Entspannungstätigkeit so ein unangenehmes Klopfen im Hinterkopf erzeugt…
Das indische Zugsystem, Teil II
Übers Wochenende versuche ich immer, raus aus Delhi zu kommen und soviel wie möglich von Indien zu sehen. Das hat allerdings seine Tücken, weil man schon Jahre im Voraus planen muss. Ja, auch in Indien, manchmal glaubt man es nicht. Auch wenn man sein Ticket schon 4 Wochen vor Reisebeginn bestellt (möglich sind bis zu 90 Tage), sind die Züge meistens schon ausgebucht. Das ist grundsätzlich nicht schlimm, man kann einfach das gewünschte Ticket bezahlen und sich dann damit auf eine Warteliste schreiben lassen. Fall dann ausreichend viele Menschen ihre ursprünglich gebuchten Tickets stornieren, darf man trotzdem noch mitfahren. Falls nicht, bekommt man sein Geld zurück.
Da die Stornierungsgebühr für eine Zugfahrt bei etwa 30 Cent liegt, was auch für indische Verhältnisse wenig ist, buchen viele Leute einfach für ein Wochenende viele verschiedene Zugtickets und stornieren dann wenige Tage vorher alle, bis auf eines. So kann es passieren, dass man vom Wartelistenplatz 35 plötzlich auf 1 rutscht und dann sogar noch tiefer. Das bedeutet allerdings nicht, dass man dann automatisch den gewünschen Platz im Zug bekommt, nein. In diesem Fall fährt man im Status „Reservation against Cancellation (RAC)“ mit, das ist ein transzendenter Zwischenzustand eines Tickets zwischen „bestätigt“ und „nicht bestätigt“. Das bedeutet soviel, wie „man kommt an Bord, aber ohne festen Platz“. Wenn man dann im Zug ist, wird geschaut, ob noch ein Bett frei ist, z. B. weil jemand seinen Zug verpasst hat. Wenn ja: Super. Wenn nein: Muss man sich mit einem anderen RAC-Passagier ein Bett teilen, welches dann zu zwei Sitzplätzen umfunktioniert wird.
All diese Prozesse sind im stetigen Fluss, man kann also alle paar Stunden im Internet seinen Wartelistenstatus abrufen und bekommt immer ein neues Ergebnis. Manchmal ist man auf der Liste nach unten gerückt, manchmal haben auch wichtige Beamte ein Ticket gebucht, die bevorzugt Tickets bekommen, dann kann man auch wieder nach oben rücken (passiert glücklicherweise selten). Wenige Stunden vor Abfahrt des Zuges wird „die endgültige Liste“ geschrieben. Während dieses Prozesses werden die verfügbaren Betten gezählt, von denen üblicherweise ein gewisser Anteil Soldaten, alten Frauen, Helden der Republik usw. vorbehalten werden. Wenn keine alte Frau ein Bett gebucht hat, wird dieses leere Bett zwei RAC-Fahrgästen zugeschlagen (Ein Bett = Zwei Sitzplätze). Wenn auch kein Held der Republik an Bord ist, haben noch zwei RAC-Fahrgäste Glück. Und so weiter…
Falls sich jetzt herausstellt, dass z. B. in der 1. Klasse, Klimaanlagen, nur 3 von 4 Betten belegt sind, werden Passagiere aus einer tieferen Wagenklasse „hochgebucht“ (wie im Flugzeug). Wenn man Glück hat, bekommt man also dann sogar ein besseres Bett, als man bezahlt hat…
Auch hier bemerkt man wieder die große Liebe der Inder zur Bürokratie, da wird mit Listen und Tabellen geworfen, dass es nur so eine Freude ist. Der Knüller ist aber eigentlich das offizielle Prozedere, wenn man ein Ticket buchen möchte. Zum Schalter gehen und „von New-Delhi nach Hamm-Uentrop“ sagen funktioniert nämlich nicht; selbst dafür braucht man ein Formular. Motivierte können es hier http://www.indianrail.gov.in/resr_form.html herunterladen und zum Üben schon mal ausfüllen. Glücklicherweise gibt es auch in Indien Reisebüros und Agenturen, die solche Dienste für kleines Geld erledigen.
All dem zum Trotz muss ich allerdings auch hier wieder eine Lanze für das System brechen: es funktioniert! Man weiß zwar nie, ob man morgen mit dem Zug weg kommt oder nicht und erfährt das auch erst ein paar Stunden vor Abfahrt, aber es wird nie ein Platz verschwendet. Und es wollen deutlich mehr Inder (und blöde Ausländer) Bahn fahren, als es Plätze gibt …
Ein Schritt näher zum Walk of Fame!
Ein Schritt näher zum Walk of Fame!
Ansonsten habe ich letztens noch meine atemberaubende Star-Karriere vorangetrieben und einen Radiospot aufgenommen für die Kodak-Mahindra Bank. Noch nie zuvor hat mir jemand versichert, dass er meine „Stimme liebt“! In der 6. Klasse durfte ich noch nicht mal eine Sprechrolle im Weihnachtsspiel haben, weil meine Stimme zu leise sei. Das vergesse ich nicht, Herr Franck! Allerdings musste ich meinen fiesesten deutschen Akzent hervorkramen, um eine Ansage am Flughafen Frankfurt zu imitieren. Hoffentlich sind die Inder, die meinen Spot hören, genauso ekstatisch begeistert wie der Audio-Regisseur. Ich sollte vielleicht anfangen, neue Autogrammkarten drucken zu lassen …
DIE EIGENART DER WOCHE: Der Tata Nano
Der Tata Nano ist ein besonders hässliches Modell eines indischen Winzigkleinwagens, das besonders wegen seines günstigen Anschaffungspreises in die Schlagzeilen, in Indien wie bei uns, geraten ist. Zu einem Preis von einem Lakh kann man den Anschaffungspreis verschmerzen und trotz des schleppenden Verkaufs zu Anfang hat die Herstellerfirma dieses Jahr etwa 80000 Stück verkauft und damit einen Umsatz von etwa 72 Crores Rupien Umsatz gemacht.
Wie bitte, Lakh, Crore? Jaaaa, der Inder zählt nicht so wie wir, der hat sich ein anderes System zur Abtrennung von Stellen ausgedacht. Und auch, wenn es jedem von uns gottgegeben erscheint, dass man Zahlen immer in niedlichen Dreierpäckchen abtrennt (z. B. 132.456.789), ist dem in Südasien nicht so. So verdient man hier also nicht 3.000.000 Rupien, sondern 30 Lakh, wobei ein Lakh 100.000 entspricht. Dementsprechend sieht hier auch die Zifferngrupierung aus, ich würde auf meinen Gehaltsscheck „30.00.000“ Rupien schreiben, mit dem Trennzeichen nach der „30“ um die Anzahl an Lakhs anzugeben. Das System setzt sich mit der Einheit Crore fort, die 10 Millionen darstellt. 306 Millionen Rupien wären dann? Genau, 30.60.00.000, also 30 Crore und 60 Lakhs.
Der Ausdruck „Million“ ist hier zwar bekannt, aber genauso unüblich wie bei uns Crores und Lakhs. Folgerichtig gibt es hier auch kein „Wer wird Millionär“, sondern nur „Wer wird Crorionär“ im Fernsehen. Und auch Wikipedia ist keine Ausnahme, „Undergraduate Programs“, letzter Satz: http://en.wikipedia.org/wiki/Indian_Institute_of_Technology_Delhi#Undergraduate_programs
Das alles ist für den armen Europäer natürlich ausgesprochen verwirrend! Ausgeschrieben sind die Zahlen leider nicht zwingend einfacher, da muss man immer erstmal die Stellen zählen, um eine Idee von der Größenordnung zu bekommen, da einen die Abtrennung in Zweierpäckchen ganz wuschig macht.
Aber man muss sich natürlich daran gewöhnen. Ich habe mir zumindest schon mal gemerkt, dass „1 Lakh Rupien“ etwa 1500 € entspricht, „1 Crore Rupien“ sind dann etwa 150.000 €. Damit kommt man zumeist ganz gut über die Runden …
Ein Lakh Grüße aus dem verrückten Indien! (1.00.000)
Nachtrag 1: Heute ist morgen! Meine Maschine läuft und produziert Faserbänder! Hurra! Leider ist die Qualität noch nicht absolut überzeugend, aber das kommt wohl noch, sage man mir …
Nachtrag 2: Zu früh gefreut! Mit einem fiesen Knirschen kommt die Maschine wieder zum Stehen. Die metergroße, schnell rotierende Trommel im Inneren ist mit einer Art feinem Sägezahn-Draht bespannt, der sich gelöst hat und sich bei hoher Geschwindigkeit meterweise irgendwie in der Maschine verwickelt hat. Aber bald kommt jemand und repariert auch dieses Problem. Wobei „bald“ zeitlich noch hinter „morgen“ liegt! Wenigstens habe ich inzwischen genügend Faserbänder, um schon mal mit meinen Versuchen anfangen zu können, hoffe ich…
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