Donnerstag, 22. Dezember 2011

Das muss man doch mal sagen dürfen!

Udaipur & Jaipur


"Morgen" läuft die Maschine

Tja, jetzt muss ich mein Blog leider mal missbrauchen, um mich mal ein bisschen aufzuregen. Und zwar über die Arbeiter in unserem Labor. Für meine Arbeit brauche ich eine Karde – so etwas: http://de.wikipedia.org/wiki/Kardieren - um aus einem Haufen Fasern ein Faserband herzustellen. Das ist eigentlich nichts Besonderes, allerdings ist die Karde, die hier steht, schon seit Monaten kaputt. Der Mechaniker der Herstellerfirma kommt nur, wenn im Voraus bezahlt wird, so etwas lässt das IIT aber aus grundsätzlich-bürokratischen Überlegungen nicht zu. Eine verfahrene Situation, die mir eigentlich egal wäre, wenn ich diese Maschine nicht so dringend bräuchte. Also muss ich meine geschätzten Laboranten hier dazu bringen, dieses Ding irgendwie zu reparieren und wieder in Gang zu setzen.

Problem dabei ist: die guten Leute haben nicht viel Zeit! Allerdings weniger, weil sie so viele andere Maschinen zu reparieren haben; es liegt eher an dem indischen Tee. Der muss nämlich im Abstand weniger halber Stunden regelmäßig konsumiert werden, ansonsten … weiß ich auch nicht. Daher erscheinen die Herren hier morgens, schließen das Labor auf, legen ihre Taschen ab und gehen dann wieder, um in der Teestube auf dem Campus ein Stündchen Tee trinken zu gehen. Oder zwei. Auch wenn der offizielle Arbeitsbeginn bei 9:30 liegt, kann man eigentlich nicht vor 11 Uhr damit rechnen, dass das Personal anwesend ist. Falls doch 90 % der Leute da sind, fehlt trotzdem immer genau derjenige, der die benötige Maschine bedienen kann. Oder die Maschine kann nur von allen gemeinsam bedient werden.

Falls man sich dann um 10 verabredet hat, um von dem Elektriker ein Bauteil checken zu lassen, und falls dann alle um 11 da sind, dreht der Elektriker an zwei Schrauben, stellt fest, dass es nicht den gewünschten Effekt bringt, wackelt hilflos mit dem Kopf und verschwindet wieder. Daraufhin versichert der Rest, dass er es in 15 Minuten noch mal versuchen würde, und verschwindet auch. Da war es 11:15. Danach ist wieder Tee-Zeit, die fließend in die Mittagspause übergeht. Daraufhin ein Verdauungstee und zack! – um 15 Uhr steht wieder jemand an der Maschine. Dieser versichert mir, wenn ich ihn später irgendwo anders im Gebäude wieder treffe, dass es ein Problem gebe, die Maschine funktioniere nicht. Er würde es aber wieder versuchen. Allerdings ist es jetzt schon spät, in einer halben Stunde ist schon Feierabend (17:30), „morgen“ werde die Maschine in Betrieb genommen.

„Morgen“ ist eine sehr indische Zeitangabe, die nichts mit den normalen Wald-und-Wiesen „morgen“ in Deutschland zu tun hat. Während bei uns „morgen“ üblicherweise eine Zeitpunkt in der Schicht am nächsten Tag bedeutet, heißt morgen hier eher: ab morgen bis...
Der benötigte Zeitraum kann am nächsten Tag durch ein erneutes „morgen“ noch mal um einen Tag verlängert werden. Meine Maschine läuft inzwischen übrigens schon seit sechs Wochen „morgen“ …

An dieser Stelle höre ich schon das geneigte Publikum murmeln „das geht doch nicht…“, „…da muss man doch mal mit eiserner Hand…“, „…Fristen setzen und konsequent durchsetzen…“. Die Erfahrung hab ich leider auch schon gemacht, es hilft alles nichts. Wenn man jemanden bittet, etwas zu tun, und er sagt „gleich“ (was übrigens einem indischen „morgen“ nur mit kürzerer Laufzeit entspricht) und ist danach nicht mehr auffindbar, ist man hilflos. Das Einzige, was hilft, ist Autorität. Die hat mein Professor; wenn der danebensteht, ist Tee auf einmal zweitrangig, dann wird geklotzt. Sobald seine autoritär-professorale Aura allerdings nicht mehr in der Nähe ist, sinkt die Arbeitsgeschwindigkeit merklich.

Zur Ehrenrettung der indischen Arbeiter muss man allerdings hinzufügen, dass die Herren Arbeiter hier 1.) „alt“ sind und 2.) in einer öffentlichen Institution arbeiten. Diese hat zu einer Beamtenmentalität geführt, die ich so noch nie gesehen habe. Die Arbeiter hier bekommen das volle Programm: Wohnung, Krankenfürsorge etc. bei minimaler Kontrolle. Und das wird ausgelebt. In der indischen Privatwirtschaft sieht das – so berichtete man mir – ganz anders aus.

Ansonsten kann ich mich eigentlich nicht beklagen; da meine Maschine immer „morgen“ läuft, habe ich „heute“ ausreichend Freizeit, die ich mit Sightseeing, Partys und Entspannung verbringen kann. Allerdings rückt auch der Abgabetermin meiner Arbeit näher, was bei jeder Entspannungstätigkeit so ein unangenehmes Klopfen im Hinterkopf erzeugt…

Das indische Zugsystem, Teil II

Übers Wochenende versuche ich immer, raus aus Delhi zu kommen und soviel wie möglich von Indien zu sehen. Das hat allerdings seine Tücken, weil man schon Jahre im Voraus planen muss. Ja, auch in Indien, manchmal glaubt man es nicht. Auch wenn man sein Ticket schon 4 Wochen vor Reisebeginn bestellt (möglich sind bis zu 90 Tage), sind die Züge meistens schon ausgebucht. Das ist grundsätzlich nicht schlimm, man kann einfach das gewünschte Ticket bezahlen und sich dann damit auf eine Warteliste schreiben lassen. Fall dann ausreichend viele Menschen ihre ursprünglich gebuchten Tickets stornieren, darf man trotzdem noch mitfahren. Falls nicht, bekommt man sein Geld zurück.

Da die Stornierungsgebühr für eine Zugfahrt bei etwa 30 Cent liegt, was auch für indische Verhältnisse wenig ist, buchen viele Leute einfach für ein Wochenende viele verschiedene Zugtickets und stornieren dann wenige Tage vorher alle, bis auf eines. So kann es passieren, dass man vom Wartelistenplatz 35 plötzlich auf 1 rutscht und dann sogar noch tiefer. Das bedeutet allerdings nicht, dass man dann automatisch den gewünschen Platz im Zug bekommt, nein. In diesem Fall fährt man im Status „Reservation against Cancellation (RAC)“ mit, das ist ein transzendenter Zwischenzustand eines Tickets zwischen „bestätigt“ und „nicht bestätigt“. Das bedeutet soviel, wie „man kommt an Bord, aber ohne festen Platz“. Wenn man dann im Zug ist, wird geschaut, ob noch ein Bett frei ist, z. B. weil jemand seinen Zug verpasst hat. Wenn ja: Super. Wenn nein: Muss man sich mit einem anderen RAC-Passagier ein Bett teilen, welches dann zu zwei Sitzplätzen umfunktioniert wird.

All diese Prozesse sind im stetigen Fluss, man kann also alle paar Stunden im Internet seinen Wartelistenstatus abrufen und bekommt immer ein neues Ergebnis. Manchmal ist man auf der Liste nach unten gerückt, manchmal haben auch wichtige Beamte ein Ticket gebucht, die bevorzugt Tickets bekommen, dann kann man auch wieder nach oben rücken (passiert glücklicherweise selten). Wenige Stunden vor Abfahrt des Zuges wird „die endgültige Liste“ geschrieben. Während dieses Prozesses werden die verfügbaren Betten gezählt, von denen üblicherweise ein gewisser Anteil Soldaten, alten Frauen, Helden der Republik usw. vorbehalten werden. Wenn keine alte Frau ein Bett gebucht hat, wird dieses leere Bett zwei RAC-Fahrgästen zugeschlagen (Ein Bett = Zwei Sitzplätze). Wenn auch kein Held der Republik an Bord ist, haben noch zwei RAC-Fahrgäste Glück. Und so weiter…

Falls sich jetzt herausstellt, dass z. B. in der 1. Klasse, Klimaanlagen, nur 3 von 4 Betten belegt sind, werden Passagiere aus einer tieferen Wagenklasse „hochgebucht“ (wie im Flugzeug). Wenn man Glück hat, bekommt man also dann sogar ein besseres Bett, als man bezahlt hat…

Auch hier bemerkt man wieder die große Liebe der Inder zur Bürokratie, da wird mit Listen und Tabellen geworfen, dass es nur so eine Freude ist. Der Knüller ist aber eigentlich das offizielle Prozedere, wenn man ein Ticket buchen möchte. Zum Schalter gehen und „von New-Delhi nach Hamm-Uentrop“ sagen funktioniert nämlich nicht; selbst dafür braucht man ein Formular. Motivierte können es hier http://www.indianrail.gov.in/resr_form.html herunterladen und zum Üben schon mal ausfüllen. Glücklicherweise gibt es auch in Indien Reisebüros und Agenturen, die solche Dienste für kleines Geld erledigen.

All dem zum Trotz muss ich allerdings auch hier wieder eine Lanze für das System brechen: es funktioniert! Man weiß zwar nie, ob man morgen mit dem Zug weg kommt oder nicht und erfährt das auch erst ein paar Stunden vor Abfahrt, aber es wird nie ein Platz verschwendet. Und es wollen deutlich mehr Inder (und blöde Ausländer) Bahn fahren, als es Plätze gibt …

Ein Schritt näher zum Walk of Fame!

Ansonsten habe ich letztens noch meine atemberaubende Star-Karriere vorangetrieben und einen Radiospot aufgenommen für die Kodak-Mahindra Bank. Noch nie zuvor hat mir jemand versichert, dass er meine „Stimme liebt“! In der 6. Klasse durfte ich noch nicht mal eine Sprechrolle im Weihnachtsspiel haben, weil meine Stimme zu leise sei. Das vergesse ich nicht, Herr Franck! Allerdings musste ich meinen fiesesten deutschen Akzent hervorkramen, um eine Ansage am Flughafen Frankfurt zu imitieren. Hoffentlich sind die Inder, die meinen Spot hören, genauso ekstatisch begeistert wie der Audio-Regisseur. Ich sollte vielleicht anfangen, neue Autogrammkarten drucken zu lassen …

DIE EIGENART DER WOCHE: Der Tata Nano

Der Tata Nano ist ein besonders hässliches Modell eines indischen Winzigkleinwagens, das besonders wegen seines günstigen Anschaffungspreises in die Schlagzeilen, in Indien wie bei uns, geraten ist. Zu einem Preis von einem Lakh kann man den Anschaffungspreis verschmerzen und trotz des schleppenden Verkaufs zu Anfang hat die Herstellerfirma dieses Jahr etwa 80000 Stück verkauft und damit einen Umsatz von etwa 72 Crores Rupien Umsatz gemacht.

Wie bitte, Lakh, Crore? Jaaaa, der Inder zählt nicht so wie wir, der hat sich ein anderes System zur Abtrennung von Stellen ausgedacht. Und auch, wenn es jedem von uns gottgegeben erscheint, dass man Zahlen immer in niedlichen Dreierpäckchen abtrennt (z. B. 132.456.789), ist dem in Südasien nicht so. So verdient man hier also nicht 3.000.000 Rupien, sondern 30 Lakh, wobei ein Lakh 100.000 entspricht. Dementsprechend sieht hier auch die Zifferngrupierung aus, ich würde auf meinen Gehaltsscheck „30.00.000“ Rupien schreiben, mit dem Trennzeichen nach der „30“ um die Anzahl an Lakhs anzugeben. Das System setzt sich mit der Einheit Crore fort, die 10 Millionen darstellt. 306 Millionen Rupien wären dann? Genau, 30.60.00.000, also 30 Crore und 60 Lakhs.

Der Ausdruck „Million“ ist hier zwar bekannt, aber genauso unüblich wie bei uns Crores und Lakhs. Folgerichtig gibt es hier auch kein „Wer wird Millionär“, sondern nur „Wer wird Crorionär“ im Fernsehen. Und auch Wikipedia ist keine Ausnahme, „Undergraduate Programs“, letzter Satz: http://en.wikipedia.org/wiki/Indian_Institute_of_Technology_Delhi#Undergraduate_programs

Das alles ist für den armen Europäer natürlich ausgesprochen verwirrend! Ausgeschrieben sind die Zahlen leider nicht zwingend einfacher, da muss man immer erstmal die Stellen zählen, um eine Idee von der Größenordnung zu bekommen, da einen die Abtrennung in Zweierpäckchen ganz wuschig macht.

Aber man muss sich natürlich daran gewöhnen. Ich habe mir zumindest schon mal gemerkt, dass „1 Lakh Rupien“ etwa 1500 € entspricht, „1 Crore Rupien“ sind dann etwa 150.000 €. Damit kommt man zumeist ganz gut über die Runden …

Ein Lakh Grüße aus dem verrückten Indien! (1.00.000)


Nachtrag 1: Heute ist morgen! Meine Maschine läuft und produziert Faserbänder! Hurra! Leider ist die Qualität noch nicht absolut überzeugend, aber das kommt wohl noch, sage man mir …

Nachtrag 2: Zu früh gefreut! Mit einem fiesen Knirschen kommt die Maschine wieder zum Stehen. Die metergroße, schnell rotierende Trommel im Inneren ist mit einer Art feinem Sägezahn-Draht bespannt, der sich gelöst hat und sich bei hoher Geschwindigkeit meterweise irgendwie in der Maschine verwickelt hat. Aber bald kommt jemand und repariert auch dieses Problem. Wobei „bald“ zeitlich noch hinter „morgen“ liegt! Wenigstens habe ich inzwischen genügend Faserbänder, um schon mal mit meinen Versuchen anfangen zu können, hoffe ich…


Montag, 5. Dezember 2011

Hollywood in Delhi!

Hollywood in Delhi

Das Firmament verneige sich vor einem aufgehenden Star: Nämlich mir. Ich bin jetzt Hollywood-Schauspieler. Naja, vielleicht eher auch Hintergrund-Schauspieler. Böse Zungen könnten es auch als Statist bezeichnen… Wie dem auch sei, bei einem gemütlichen Essen in einem gehobenen Restaurant vor einer Woche werde ich von einer wuseligen Dame angesprochen, ob ich nicht vielleicht CIA-Agent in einer Hollywood-Produktion sein wolle. Ich hätte die richtige Größe und Statue, wie wär’s? Ich sage zu und stehe Montagmorgen in der Umkleide am Set, wo ich vom Kostümmeister nach seiner Vorstellung eines Spezialagenten eingekleidet werde. Danach bekomme ich vom Waffenmeister eine Maschinenpistole in die Hand gedrückt und schon geht es los…

Die zu drehende Szene spielt auf einem Markt in Pakistan, auf welchem Liev Schreiber in seiner Rolle als „Bobby“ mit einer Geisel aus einem Haus auf den Markt stürmt und dort von einem wütenden Mob empfangen wird. Nach einem kurzen Gemenge löst sich ein Schuss, „Bobby“ hält sich das blutende Bein und die Menge ist drauf und dran ihn zu zerfleischen. In diesem Moment rasen zwei SUV – unter Tomatenfeuer der aufgebrachten Menge – durch ein Tor, halten den Mob mit automatischen Waffen in Schach, laden den verwundeten Bobby ein und rasen mit dem Geretteten (und unterstützt von der pakistanischen Polizei) von dannen.


Da das allgemeine Klima in Pakistan gerade nicht zu einem Hollywood-Dreh einlädt und man praktisch keinen Unterschied zwischen einem randalierendem pakistanischen und einem randalierenden indischen Mob sieht, wird dieser Filmschnipsel Delhi hergestellt. Um das muslimisch-extremistische Umfeld trotzdem abzubilden, wird der Film in der Anglo-Arabic-School in Delhi gedreht. Die ist vor Jahrhunderten ganz im arabischen Stil gebaut worden und unter den kunstvollen Händen der Bühnenbildner hat sich der triste Schulhof in einen pulsierenden Markt vor arabischem Hintergrund verwandelt. Besonders fasziniert haben mich das alte Markthaus mit den kleinen Geschäften dort, das aussieht, als stünde es schon seit hundert Jahren dort, aber eigentlich nur ein Satz Wände aus Holz und Plastik ist. Die Illusion ist absolut perfekt! Zusätzlich hat man noch von den Straßen Delhis allerlei Händler mit ihren Ständen rekrutiert, die teilnahmslos ihre Datteln feilbieten oder Zwiebeln für ihre Grillspießchen am Set schneiden, ohne jemals etwas zu verkaufen. Manchmal allerdings nutzen die indischen Statisten die Chance und erwerben von einem Deckenhändler eine Winterdecke (sehr günstig!) oder kaufen dem Zigaretten- und Süßigkeitenhändler Zigaretten und Süßigkeiten ab.

Für die Schulkinder der Anglo-Arabic-School ist das ganze Tohuwabohu natürlich ein einziges Fest, der normale Schulbetrieb geht (offiziell) ganz ungestört weiter. Trotzdem bemannen die Kinder in ihren Schuluniformen natürlich jedes verfügbare Fenster und jede Zinne, um dem abenteuerlichen Treiben auf ihrem Schulhof zuzusehen. Wer könnte es ihnen verdenken, wenn unten geschossen und geschrien wird möchte keiner still Mathe lernen…

Auch außerhalb der Schule sammeln sich Schaulustige, die immer nur einen Blick auf die Szene durch das kurz geöffnete Tor erhaschen können, aber von den Sicherheitsleuten daran gehindert werden, die Szene tatsächlich zu betreten. Die Dreistesten versuchen es allerdings trotzdem und kommen meistens sogar damit durch, werden dann allerdings am Set schnell wieder herausgefischt. Erkannt werden sie meistens durch das dämlich-unschuldige Grinsen, das sie aufsetzen, wenn sie auffällig-unauffällig zwischen den anderen Statisten umherschlendern.

Doch zurück zu den eigentlichen Helden des Films, den Statisten. Ich stürme also dort mit einer Handvoll schwerbewaffneten Nicht-Indern waffenstarrend besagten Markt, um Bobby zu retten. Der Tomatenregen, der das erste Auto empfängt wirkt sich leider auch auf einige meiner Mitstreiter aus, es gibt einen Volltreffer ins Gesicht zu verzeichnen. Überall Blut! Ach nee, Tomatensaft… Ich habe Glück und komme nur mit ein paar Spritzern Saft davon. Sobald wir uns dann auf dem Markt in Position gebracht haben, dürfen die größten und bulligsten der Kollegen den angeschossenen Helden ins Auto werfen, während wir anderen (ich bin weder groß noch bullig genug dafür) die Menge mit Zurufen und Waffenfuchteln in Schach zu halten versuchen … „Stop, Cut!“ Jaha, hier lernen wir ganz schnell, dass auch richtiges Waffenfuchteln gelernt werden muss. Wir werden belehrt, dass wir viel zorniger aufzutreten haben und uns bewusst sein sollen, dass wir der ganzen Bande mit einem Hebelzug den Garaus machen können. Klick, tot. Derartig angezornt können wir im nächsten Versuch schon viel aggressiver auftreten und steigern uns dann von Dreh zu Dreh zu wahren Kampfmaschinen.


Die Dramaturgie sieht danach vor, dass nach vollbrachter Rettung die Agenten in die Wagen springen und zwei Kollegen und ich auf dem letzten Auto „außenstehend“ davondüsen. Hier liegt allerdings auch der Teufel im Detail, der Fahrer des entsprechenden Autos manövriert sein Gefährt gerne an uns vorbei, sodass wir demselben sehr unelegant hinterherrennen müssen, damit es uns überhaupt mitnimmt. Oder wir klettern rechtzeitig auf unsere Positionen, dann beschleunigt der Fahrer allerdings so spektakulär, dass wir in der nächsten Kurve beinahe wieder in die Arme des aufgebrachten Mobs fallen. Irgendwie scheint der Fahrer auch taub auf dem Ohr zu sein, wenn wir ihm unsere Beschwerden vortragen, so dass uns nicht anderes bleibt, als schnell zu sprinten und uns krampfhaft festzuhalten.

Wir lernen allerdings auch, dass das alles gar nicht so schlimm ist, da jede Szene sowieso 20 Mal gedreht wird. Solange dann die Kontinuität stimmt, kann man einfach die bestaussehendsten Szenen zusammenschneiden. Dann scheint alles 3 Minuten lang aus einem Guss zu sein, obwohl wir 2.5 Tage die gleiche Szene immer und immer wieder gedreht haben. Daher eine weitere wichtige Lektion für meine Schauspieler-Karriere: Man braucht Geduld, und davon nicht wenig. Die meiste Zeit des Tage verbringen wir mit „in Position warten“, „am Set warten“ oder „im Essenszelt warten“ (letzteres leider oft viel zu kurz). Wenn wir nicht warten, drehen wir die gleiche Szene wieder und wieder. Immer stimmt irgendein Detail nicht, Licht, Ton, was auch immer. Und selbst wenn alles stimmt, wird die Kamera umgesetzt und die ganze Szene noch mal aus einem anderen Winkel gedreht.

Aber egal wie lange es dauert: für leibliches Wohl ist immer gut gesorgt, jederzeit findet sich jemand, der einem Snacks, Getränke oder andere Köstlichkeiten serviert. Frühstück und Abendessen sind ebenfalls hervorragend, ich habe seit gefühlten Jahren endlich mal wieder Nudelsalat gegessen ... (so richtig schön fett, mit Mayonnaise)

Ebenfalls lerne ich hier sehr eindrucksvoll, dass auch im „professionellen Hollywood“ mehr Chaos als Ordnung herrscht. Es gibt zwar eine generelle Dramaturgie und einen relativ genauen Ablaufplan, aber die Regisseurin, Mira Nair, entscheidet am Set dann doch eher aus dem Bauch heraus und nach Verfügbarkeit von Ressourcen. Und bei jeder Szene wird improvisiert, was das Zeug hält. Ein Mitarbeiter hat zum Beispiel am Set ein raffiniertes Verfahren entwickelt, Tomatenmatsche aus frischen Tomaten zu produzieren, um das tomaten-bombardierte Auto, das vorweg fährt, bei jedem Auftritt wieder genauso einzusauen, wie es beim ersten echten Bombardement aussah. „Kontinuität“, jeder Gegenstand muss so aussehen wie in der letzten Szene, ist das Schlüsselwort. Die Armbanduhrenträger müssen sogar ihre Uhren immer wieder auf die „richtige Zeit“ zurückstellen. Trotzdem hat man als Mitwirkender bei jeder Szene das Gefühl, dass jetzt eigentlich alles ganz anders als vorher aussieht, Haare liegen anders, Leute stehen anders. Trotzdem muss man ja sagen, dass bei fertigen Filmen so was immer relativ selten auffällt. Nur gestanden Film-Fans stellen dann üblicherweise unzählige Kontinuitätsfehler fest und füllen damit die IMDB-Fehler-Datenbank. Ich bin ja mal gespannt, wie „unsere Szene“ dann in der endgültigen Version aussieht.



Vor einigen Tagen durfen wir noch eine ergänzende Szene drehen, im „Safehouse“, dem Beobachtungsposten über dem Marktplatz aus der ersten Szene. Dort gehen wir alle sehr wichtigen Geheimdiensttätigkeiten bei der Observation nach. Dazu gehören „mit einem nicht eingesteckten Kopfhörer Gespräche abhören“, „auf zwei Rechnern in Standbilder herein- und herauszoomen“, „von Generalstabskarten irgendetwas auf ein Klemmbrett übertragen“, „Fotos von Verdächtigen an Pinnwände pinnen“ und zu guter Letzt natürlich „Waffen testen, Magazin rein und raus und – darauf hatten alle gewartet – ‚rickrack!‘ die Waffe durchladen“.

Interessant war hier die Zusammenarbeit mit den „professionellen Schauspielern“. Während Statisten nur Anweisungen von den Hilfsregisseuren bekommen („Stell dich hierhin und schau böse!“), versuchen sich die Profis immer an einer Interpretation. „Steht er nicht unter allergrößten, inneren Anspannung? Sollt er daher nicht mit dem Stift gestikulieren? Ich sollte vielleicht besser hier eine dramaturgische Pause einfügen.“

Auch hier haben ein paar Sekunden Film wieder einen ganzen Tag gedauert, jede Einstellung wurde zigmal gedreht. Und selbst wenn alles perfekt im Kasten war, nahmen wir die Szene noch mal auf, nur so zur Sicherheit, „Roll sound! - Sound is rolling… - Take 512, Safehouse! - Aaaaaaaaaand action!“. Aber jetzt ist es geschafft, ich bin wirklich sehr auf das Endergebnis gespannt.

Ich erwarte natürlich jetzt von jedem Blogleser, dass er diesen Film ansieht, um meine Popularität im Filmbusiness zu steigern. Ich habe mir von der Produzentin sagen lassen, dass das  ein klassischer „September-Film“ sei. Kein großer Sommer-Spaß-Film, sondern eher etwas nachdenklicher, für Leute mit Anspruch. Das seid ihr!



DIE EIGENART DER WOCHE: Der Nepp als sportliche Disziplin
Jaaaa, es ist schon ziemlich nervig, dass Inder das Betrügen von Touristen als sportliche Leistung anzusehen scheinen. Glücklicherweise ist auf den meisten Industrieprodukten ein maximaler Verkaufspreis aufgedruckt, der bei den Verhandlungen hilft. Dann weiß man, dass eine Flasche Wasser 12 Rupien kosten sollte. Das hält den Verkäufer natürlich nicht davon ab, scheinheilig für zwei Flaschen 30 Rupien zu wollen. Angesprochen auf den aufgedruckten Preis korrigiert er sich schnell auf 24 Rupien, man kann’s ja mal versuchen. Manchmal bleibt er auch bei den 30 Rupien, weil das Wasser kalt ist oder weil er vorher nicht reingespuckt hat. Und das ist leider überall so. Wenn man irgendjemand nach dem Preis – zum Beispiel einer Portion Essen fragt – ist das Prozedere immer das gleiche. Der Gefragte schaut fragend seine Mitverkäufer an, die wiegen ein bisschen bedächtig den Kopf, überlegen, und nennen dann einen Preis. Klares Zeichen: hier wird abgeschätzt, wie viel man dem Weißen wohl aus der Tasche ziehen kann. Dann zahle ich halt 30 Rupien für eine Portion, während der kleine Knirps neben mir sich seine Portion für 10 abholt. Das bringt mich nicht um, fühlt sich aber nicht gut an. In dem Fall war es ja auch „nur“ der 3fache Preis, ein Autorikscha-Fahrer, der uns noch für 80 Rupien in Jodhpur auf den Burgberg gefahren hatte, wollte von einem einzelnen Fahrer für die Fahrt runter (ohne indische Vermittler) auf einmal 500 Rupien haben.

Manchmal ist das ja ganz lustig, aber oft hat man auch einfach keinen Bock sich mit 5 Taxifahrern zu streiten, bevor einer einen vernünftigen Preis bietet. Da ist mir Deutschland – mit seinen fixen und ausgeschriebenen Preisen – dann doch lieber.

Auf der anderen Seite kann man mit dem fixen und ausgeschriebenen Preis eines deutschen Taxis eine ganze Armee von indischen Rikschafahrern auf der gleichen Strecke beschäftigen, die einen nachher vermutlich noch zwei Stunden für die großzügige Zuwendung dankbar anbeten würden. Alles hat seine Vor- und Nachteile…