Donnerstag, 19. Januar 2012

Weihnachten, Neujahr und ein Wintertraum in Indien

Delhi & Musoorie

Ich hatte in den letzten Wochen das Vergnügen, das komplette Festprogramm (Silvester & Weihnachten) in Indien zu absolvieren. Und auch wenn’s nicht schlecht war: Zu Hause ist es doch irgendwie schöner.

Weihnachten ist hier kein großes Ding, auch wenn es ein offizieller Feiertag ist. Inder sind da ganz opportunistisch und erklären einfach alle großen Feiertage aller wichtigen vorhandenen Religionen zu nationalen Feiertagen. So ist immer mal wieder frei, weil Hindu-Feiertag, Sikh-Feiertag, Moslem-Feiertag oder eben Weihnachten ist. Man wird natürlich auch hier mit Weihnachts-Merchandising bombardiert und jedes  Einkaufszentrum, das etwas auf sich hält, hat eine überdimensionale Plastiktanne und eine Batterie kitschiger Weihnachtsprodukte aufgebaut. Dazu noch ein paar Eimer Kunstschnee: Zack, fühlt man sich wie in einer Coca-Cola Reklame. Ganz großes Kino für die Inder, da werden dann ausgiebige Fotosessions vor geschossen um zu zeigen, dass man a) in der Mall und gleichzeitig b) im Weihnachts-Wunderland war. Zur richtigen Vorweihnachtsstimmung gehören für mich allerdings Lebkuchen und Glühwein, und die gibt’s hier leider nicht. Oder glücklicherweise? Wenn die ganzen Weihnachtsvorbereitungen wie zu Hause fehlen, vermisst man es irgendwie auch gar nicht so stark, nicht zu Hause zu sein. Dann ist Weihnachten ein strahlend sonniger Tag wie jeder andere auch. Aber auch Hindu-Inder feiern Weihnachten, allerdings eher, um die Gelegenheit zum Feiern wahrzunehmen denn der eigentlichen religiösen Bedeutung wegen. Aus diesem Grund war ich auch zu einer Weihnachtsfeier eingeladen, die aus einer riesigen Portion Hühnchen für alle und zwei Litern Rum plus Cola bestand.

War letztendlich eine lustige Sache, ein betrunkener Inder hat mir sein antiquiertes Weltbild über die Rolle der Frau unter dem Mann dargelegt, das Dinge beinhaltete, die auch vor 300 Jahren schon als rückständig und unmodern gegolten hätten. Das fing mit der von ihm befürworteten (und informell praktizierten) Vielehe an und hörte mit der totalen Hörigkeit seiner „offiziellen“ Frau zu Hause auf. Ein anderer anwesender Inder war davon aufs Peinlichste berührt, weil er der Meinung war, dass man doch einem Ausländer – also mir – auf keinen Fall ein so rückständiges Bild von Indien vermitteln dürfe. Daher führte dieser alle ihm verfügbaren argumentativen Waffen ins Feld und es entspann sich ein faszinierender Kampf zwischen altem und neuem Indien. Am Ende war natürlich keiner von seiner Meinung abzubringen, ich verzog mich irgendwann ins Bett und die Streithähne trennten sich schlussendlich auch wieder. So nahm ich neben einem Bauch voller Hühnchen auch noch die interessante Erkenntnis mit, dass es deutlich konservativere Menschen in diesem Land gibt, als ich mir hätte je zu träumen wagen.

Silvester verbrachte ich in totalem Gegensatz dazu in Gurgaon, der reichen Satellitenstadt im Süden Delhis. Dort feierte ich bei (entfernten) Bekannten in einem Oberklassen-Wohnviertel in einer Oberklassen-Wohnung ein Oberklassen-Silvester. Das war etwas ganz anderes, dort flossen die ausländischen Alkoholika in Strömen, die Hausangestellten servierten immer neue aufregende Snacks und weltgewandte Herren und Damen diskutierten internationale und nationale Politik und Wirtschaft. Allerdings war die ganze Gesellschaft eigentlich schon ein bisschen zu „alt“, mit einem Altersschnitt 30+ wurde die Sause weniger zu einer wüsten Hausparty denn eher zu einem gemütlichen Beisammensein. Das war auch ganz nett, aber nicht atemberaubend.

Letzes Wochenende habe ich mich dann mit einer Französin und einem Inder auf den Weg nach Mussorie gemacht, einer alten britischen „Hillstation“. Hillstations sind kleinere Orte, die von den Briten an kühlen Orten in den Bergen angelegt wurden, um sich dorthin im stickigen indischen Sommer für einige Wochen zurückzuziehen und in den Himalayas bei erträglichen Temperaturen den Nachmittagstee (natürlich mit Scones!) einzunehmen. Die erträglichen Sommertemperaturen sind im Winter leider eher weniger erträgliche Wintertemperaturen…

Unglücklicherweise ist die Zugfahrt dorthin nicht allzu entspannt, ich bekomme ein Bett direkt neben der Abteiltür und ein paar Nachteulen-Inder beschäftigen sich die ganze Fahrt über damit, sich entweder in Zimmerlautstärke zu unterhalten, oder durch „meine“ Tür zu gehen. Nicht nur das der kalte Windzug, der einen jedes Mal dabei streift einen entspannten Schlaf stört, nein, ich bin auch ein Stück zu „lang“ für das indische Zugbett, sodass meine Füße ein bisschen über die Bettkante hinausschauen. Das ist kein Problem in der Mitte des Waggons, aber an der Tür liege ich damit genau im Öffnungsradius derselben. Und jedes Mal, wenn ich es mir gerade mal wieder gemütlich gemacht habe, haut mir ein Inder die Tür vor den Zeh. Aber egal, nach der Ankunft im Tal nehmen wir einen Bus in die Berge, interessante Erfahrung. Der Bus scheint das „Blaue Band“ für Himalaya-Kapitäne gewinnen zu wollen, so wie der die Serpentinen hochheizt! Immer mit Schwung in die Haarnadelkurven! Die gemessene Distanz zwischen Start und Ziel sind zwar nur 15 km, aber durch die Serpentinenfahrt bewegt man sich praktisch nur auf der Stelle. Also werden wir 1.5 h lang abwechselnd nach links und rechts geschleudert. Nur mit Mühe können ich und meine Begleiter unseren Mageninhalt in uns behalten und wir überlegen, ob die Busfahrer Wetten auf kotzende Passagiere abgeschlossen haben…

In Musoorie angekommen werden wir von schönstem Schneeregen empfangen sowie eisigen Winden. Da ich hier dem ersten Regen seit 3 Monaten gegenüberstehe, bemerke ich auch erst hier, dass beiden meine Schuhsohlen erkleckliche Löcher aufweisen, durch die bei jedem Schritt der eiskalte Schneematsch in den Fußraum gepumpt wird. Ekeliger kann man sich kaum fortbewegen, mit kalten, nassen Füßen durch den Schnee, wunderschön!

Ich sammle auf dem Weg noch einen verloren aussehenden Kanadier auf, der mit uns im Bus saß und wohl genauso wie wir auf der Suche nach einem Gästehaus war. Also quartieren wir uns zu viert im Hotel „Broadway“ ein, das außer dem spektakulären Namen mit demselben nichts gemein hat. Den Rest des Tages verbringen wir mit etwas erfolglosem Sightseeing im Schneematsch, dann und wann erfrischt von eiskalten Regenschauern. Wenn allerdings mal die Sonne für einige Augenblicke hervorkommt ist die Sicht spektakulär: weiße Bergspitzen im Hintergrund, schneebedeckte Wälder im Vordergrund und dazwischen kleine Dörfer. Superb! Allerdings entscheiden sich gegen Nachmittag einige Wolken unserer Hillstation einen Besuch abzustatten. Und die Wolken kommen tatsächlich in der Dorf, man sieht nicht mehr allzu viel, außer grauem Nebel. Daher nehmen wir die vielfältigen kulinarischen Möglichkeiten vor Ort wahr und versorgen uns allem, was der Ort hergibt, von A wie Alkohol bis Z wie Züßigkeiten. Nach ein paar gemütlichen Kartenspielen in der Hotellobby – die zwar Fenster, aber genügen Löcher in Bodennähe hat, als dass einem die Füße früher oder später eh abfrieren – machen wir uns mit dem vom Hotel gestellten Heizlüfter vertraut. Es stellt sich heraus, dass keine im Zimmer vorhandene Steckdose die vom Gerät vorgesehenen 15 Ampere liefern kann, daher passt der mechanisch codierte Stecker auch in keine der installierten Steckdosen. Kein Problem, der Wirt holt den Heizlüfter wieder ab und kommt kurz darauf mit dem gleichen Gerät wieder, nur dass jetzt anstelle des Steckers zwei blanke Drähte aus dem Kabel gucken. Diese eben zurechtbiegen, in die Steckdose einführen, fertig. Aus dem Heizlüfter kommt dann zwar kein heißer Sturm, sondern eher ein laues Lüftchen, aber egal. Immer noch besser, als das Feuer, dass sich der Wirt in der Mitte seines Wohnzimmers angezündet hat.

Am nächsten Tag machen wir uns wandernderweise auf den Weg zur Ruine des Hauses Everest, das Herrn George Everest gehörte. Woher kommt uns der Name bekannt vor? Genau, vom Mount Everest. Der ist nämlich nach dem guten George benannt, der sich im imperialen Indien einen Namen als Landvermesser gemacht hatte. Und – wie wir nach einigen Stunden bemerkten – auch ein Auge für malerische Hanglagen von Ferienhäusern mit prächtigem Blick über die Berge hatte. Es ist schwer zu beschreiben, wie schön die Aussicht war, auf jeden Fall ganz großes Kino. Und das Beste darüber hinaus war, dass wir praktisch ganz alleine dort waren. Wir und tausende tibetanische Gebetsfahnen. Verstörend an den Gebetsfahnen war allerdings, dass sie sich bewegten (im Wind), aber keine Geräusche dabei machten. Das ist etwas, was man in Indien selten trifft, Bewegung ohne Lärm. Nachdem ich mich von dem Schreck erholt habe, streife ich noch ein bisschen um die Ruinen, bis sich wieder eine Wolke zu uns gesellt und alles in einen dichten, grauen Schleier hüllt. Selten habe ich eine so atmosphärische Ruine gesehen!

Nach unserer Rückkehr stelle ich in meinen Beinen fest, dass unsere Wandertour zum einen ziemlich lang war und zum anderen recht oft auf- und ab ging. Deutlich mehr als ich litt allerdings unser Inder, der lange Fußwege gar nicht mehr gewohnt war. Das Problem an Indern ist, dass sie das Laufen irgendwie verlernt haben. Sobald man die finanziellen Möglichkeiten hat, fährt man eigentlich nur noch Autorikscha, und zwar von Tür zu Tür. Dabei läuft man meistens keine 300 m, alles darüber hinaus fällt schon unter „schwere körperliche Anstrengungen“. Daher sind kilometerlange Märsche zum reinen Vergnügen ein Konzept, das Indern eher schwerlich einleuchtet. Dementsprechend zerbröselt, aber tapfer, schleppt sich unser Inder zurück ins Dorf, um mit uns ein dekadent-pompöses Festmahl (für 3 € pro Person) zu feiern.

Abends dann rast uns ein weiterer Kotzbomber-Bus wieder die kurvige Bergstraße herunter und entlässt uns am Bahnhof, von wo aus wir uns zurück auf den Weg nach Delhi machen. Angenehmerweise werden die Züge hier – zumindest wenn der Bahnhof die „Startstation“ ist – schon Stunden vorher bereitgestellt. Daher konnten wir uns schon 1 ½ Stunden vor Abfahrt in unsere Schlafwagenbetten kuscheln. Und als das Gro der Passagiere kurz vor Abfahrt mit den Waggontüren meine Nerven wieder auf einen Probe stellen wollten, war ich bereits ganz entspannt ins Reich der Träume abgedriftet …

Die Eigenart der Woche: Scharf und Sauer

Wohin man auch schaut, hier baumeln überall Chilis und Limonen an Bindfäden von Autos, LKW und Bussen. Das fand ich verwunderlich, aber man kennt ja die Inder, vielleicht für den kleinen Hunger zwischendurch? Wenn man allerdings so ein Chili-Limonen-Gebinde ein paar Wochen in der Delhier Verkehrsluft gut durchziehen lässt, dann ist das Resultat vermutlich so giftig, dass selbst Inder es nicht mehr verzehren würden. Was ist dann der tiefere Grund? Antwort: Aberglaube! Dieses liebevolle Arrangement soll den bösen Blick von dem behangenen Objekt ablenken. Menschen, die neidisch sind oder Indern grundsätzlich etwas Böses wollen (der Teufel, Pakistanis, Steuereintreiber…) können daher den besagten Gegenstand nicht mehr mit einem Fluch belegen. Ich habe zwar noch nicht den genauen Zusammenhang zwischen sauer-scharfen Gebinden und Flüchen begriffen, aber für Inder scheint der doch recht offensichtlich zu sein.

Eine andere, abergläubische Variante, um Schaden von Menschen oder Dingen abzuwenden, ist die Störung der Perfektion. Alle „perfekten“ Dinge (soweit das in Indien möglich ist) haben daher hier eine kleine Fehlstelle, da perfekte Dinge den Teufel anlocken. Daher bekommen kleine Kinder hässliche Kajal-Liedschatten verpasst (in der Tat sehr abstoßend, auch für Nicht-Teufel) oder die bunt bemalten LKW, die hier überall herumfahren, werden mit Schuhen (pfui, wie unrein) oder hässlichen Gemälden geschützt. Inder sind davon fest von der Wirksamkeit überzeugt und ich finde, dass das eine feine Sache für Kundendienste jeder Art ist. „Ihre Kühlschranktür schließt nicht richtig? Das ist der bewusst installierte, serienmäßig ausgelieferte Schutz gegen den Teufel. Tut mir leid, leider kein Garantiefall. Schönen Tag noch…!“




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